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Nocturama
Filmbewertung: überzeugend
Starttermin: 18.05.2017
Regisseur: Bertrand Bonello
Schauspieler: Finnegan Oldfield, Vincent Rottiers, Hamza Meziani
Entstehungszeitraum: 2016
Land: F / B / D
Freigabealter: 16 (beantragt)
Verleih: RealFiction
Laufzeit: 130 Min.
Jugend auf Abwegen
In "Der Himmel wird warten" beschrieb die französische Filmemacherin Marie-Castille Mention Schaar vor Kurzem, wie und warum sich zwei gewöhnliche Mädchen islamistisch radikalisieren. Einen gänzlich anderen Weg beschreitet Regiekollege Bertrand Bonello ("Saint Laurent"), wenn er in "Nocturama" von einer Gruppe junger Menschen erzählt, die in Paris an symbolischen Orten eine Reihe von Anschlägen verübt. Eindeutige Gründe für die Taten und eine Analyse der Fanatisierung liefert das Thriller-Drama nicht, was durchaus irritierend ist. Andererseits hebt sich der Film auf diese Weise aber auch spürbar - und manchmal wohltuend - von angestaubten Genre-Mustern ab.

Irgendetwas liegt in der Luft. Das ist schon in den ersten Szenen, die ohne Dialoge auskommen, mit Händen zu greifen. Einige Jugendliche sitzen in der Metro, wechseln die Bahn, tauschen kurze, angespannte Blicke aus, verlassen den Untergrund, werfen Handys in Mülleimer, steuern zielstrebig bestimmte Gebäude an und tragen Pakete durch die Straßen der französischen Metropole. Dass die Teenager, zwischen denen Bonello immer wieder hin- und herspringt, zusammengehören, zeichnet sich langsam ab. Ebenso wie die Vermutung, dass etwas Unheilvolles im Gange ist.

Die Aktionen werden präzise ausgeführt. Sind offenbar minutiös geplant. Und ständig gibt es Zeiteinblendungen, die einen undefinierten Countdown einzuläuten scheinen. Beinahe dokumentarisch zeichnet "Nocturama" die Vorbereitungen nach, erzeugt aber trotzdem einen erstaunlichen Sog - auch befeuert von pulsierenden Elektroklängen, die der Regisseur höchstpersönlich komponiert hat.

Kurz bevor an unterschiedlichen Orten - etwa im Innenministerium - sorgsam platzierte Bomben explodieren, schleicht sich in den nüchtern gefilmten Ablauf ein surreal anmutender Rückblick ein, der die jungen Attentäter beim Tanzen zeigt. Traumversunkene Bewegungen und Gemeinschaftsgefühl verschmelzen hier auf eindringliche Weise.

Was genau diese aus unterschiedlichen Schichten und ethnischen Hintergründen zusammengesetzte Gruppe antreibt, blendet Bonello aus. Andere Flashbacks werfen dem Publikum allenfalls kleine Brocken hin, deuten eine grundsätzliche Ablehnung des Systems an, erklären letztlich aber nichts. Mit seiner provokanten und sicher diskutablen Verweigerungshaltung unterläuft "Nocturama" die Erwartungen des Zuschauers und dürfte nicht wenige frustriert zurücklassen. Gleichzeitig liegt jedoch genau darin die faszinierend-verstörende Unberechenbarkeit des Films, der das Prinzip "Show, don't tell" konsequent beherzigt.

Da die Vorgeschichten außer Acht gelassen werden und eine sehr heterogene Rebellen-Clique im Zentrum steht, drängen sich Vergleiche mit der von IS-Anschlägen geprägten Wirklichkeit nur am Rande auf. Tatsächlich begann der Regisseur mit der Drehbucharbeit eigenen Angaben zufolge schon Jahre vor den terroristischen Attacken, die Paris 2015 und 2016 erschütterten. Konkrete Ereignisse und Bezüge interessieren Bonello nicht. Vielmehr ist er bemüht, ein grundsätzlich angespanntes gesellschaftliches Klima zu illustrieren, in dem eine orientierungslose Jugend von Wut und diffusen Aggressionen geleitet wird.

Deutlich erkennbar ist dieses Vorhaben auch im zweiten Teil des Thriller-Dramas: Nach dem Anschlag konzentriert sich die Handlung fast ausschließlich auf ein Luxuskaufhaus, das den Hauptfiguren als nächtlicher Zufluchtsort dient. Wirkte das Geschehen anfangs zumeist betont realistisch, erzeugt der Film in den Räumlichkeiten des Konsumtempels eine albtraumhaft-entrückte Atmosphäre und legt dabei die Verwirrung und Verunsicherung der Jugendlichen offen.

Leider dreht sich "Nocturama" hier des Öfteren im Kreis, lässt die Spannungskurve etwas absacken und operiert nicht immer mit glaubwürdigen Entwicklungen. Dank eines wiederum intensiven Schlussspurts brennt sich der eigenwillige, schwer fassbare Film dennoch ins Gedächtnis ein und liefert auch Tage später noch Stoff zum Nachdenken.

Von Christopher Diekhaus