rewirpower.de – Das Revierportal


Ein Sack voll Murmeln
Filmbewertung: überzeugend
Starttermin: 17.08.2017
Regisseur: Christian Duguay
Schauspieler: Dorian Le Clech, Batyste Fleurial, Patrick Bruel
Entstehungszeitraum: 2017
Land: F / CDN / CZ
Freigabealter: 12
Verleih: Weltkino
Laufzeit: 114 Min.
Ohrfeigen fürs Überleben
Gleich am Anfang des Film "Ein Sack voll Murmeln" erlauben sich zwei Brüder in Paris einen ziemlich übermütigen Scherz. Sie stellen sich vor den Friseursalon ihres Vaters und verdecken ein Schild, woraufhin zwei ahnungslose Männer das Geschäft betreten. Es ist der 19. März 1942, auf dem Schild steht "Achtung! Jüdisches Geschäft". Die ahnungslosen Männer sind Soldaten der deutschen Besatzungsmacht. Ein Streich also am Rande eines lebensmüden Wahnsinns, den nur Kinder in ihrer Naivität unbeschadet überstehen können. Regisseur Christian Duguay setzt mit dieser Szene die Tonlage für sein Holocaustdrama, in dem das Grauen von Anfang an präsent ist, ohne dass es mit drastischen Szenen gezeigt werden muss.

Die beiden Jungs heißen Joseph (Dorian Le Clech) und Maurice (Batyste Fleurial Palmieri), sie werden Paris schon kurz nach ihrem Streich verlassen müssen. Allein, ohne Eltern. Die Deutschen haben begonnen, jüdische Familien zu deportieren, eine gemeinsame Flucht wäre zu auffällig. Bevor sie sich auf den Weg in den unbesetzten Teil Frankreichs machen, gibt es vom Vater (Patrick Bruel) noch Ohrfeigen, immer wieder und immer wieder.

"Bist du Jude?", schreit er seinen Jüngsten an. "Nein", antwortet Jo und unterdrückt seine Tränen. Hilflos sehen seine Mutter (Elsa Zylberstein) und Maurice zu. Sie wissen, dass es besser ist, eine Ohrfeige auszuhalten, als im KZ zu landen. Und die Deutschen haben noch ganz andere Methoden.

Jo und Maurice werden diese Lektion nicht vergessen auf ihrer Flucht, die Regisseur Duguay aus der kindlichen Perspektive Josephs erzählt, der anfangs zehn Jahre alt ist und eigentlich nur mit seinen Murmeln spielen will. Die Flucht mag er mit mulmigem Gefühl beginnen, sie ist für ihn aber auch ein Abenteuer, das er zusammen mit seinem großen Bruder erlebt. Ein großes Abenteuer, in dem die beiden Jungs durch die Provence wandern und sich manchmal sogar erlauben können, Kinder zu sein.

Dann wirken die Bilder von Kameramann Christophe Graillot so unendlich weit, sind in die schönsten Farben des Sommers getaucht. Nur um ein paar Szenen später in die Enge und Dunkelheit getrieben zu werden. Wenn sich Jo und Maurice in einem katholischen Internat verstecken oder sich einem sadistischen Nazi-Offizier stellen müssen, der nichts anderes zu tun hat, als in tagelangen Verhören herauszufinden, ob sie Juden sind.

"Ein Sack voll Murmeln" basiert auf der 1973 erschienenen gleichnamigen Romanvorlage von Joseph Joffo, die zu den bekanntesten Jugendbüchern Frankreichs über diese Zeit gehört. Joffo, der immer noch in Paris lebt, hat darin seine eigenen Erinnerungen verarbeitet. Diese persönlichen Erfahrungen spürt man, sie sind, neben den herzergreifend natürlich spielenden jungen Darstellern, der Grund dafür, dass die Story trotz konventioneller Dramaturgie für ein jüngeres und ein älteres Publikum gleichermaßen funktioniert. Im Laufe des Films wird Jo seine Unschuld gegen Erkenntnis eintauschen. Er wird politische Zusammenhänge verstehen, die menschliche Natur kennenlernen mit all ihrer Unmenschlichkeit.

Aber mehr noch als die Nazis und Kollaborateure, mehr noch als der Schrecken und das Grauen bleiben die guten Menschen in Erinnerung, die Jo und Maurice auf ihrer Flucht helfen. Ein hilfsbereiter Schleuser etwa, der sie sicher in die "freie Zone" führt. Zwei hohe katholische Geistliche, die ihnen gefälschte Taufzertifikate besorgen oder ein jüdischer Arzt (Christian Clavier, "Monsieur Claude und seine Töchter"), der sie beiläufig vor dem KZ rettet. Diese Menschen schenken Hoffnung, und das macht auch heute wieder Mut.

Von Andreas Fischer