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Alejandro Jodorowsky wird 90
Der Psychomagier des Kinos
Drei Filme, von denen einer nie fertig wurde, reichten Alejandro Jodorowsky, um zu Weltruhm zu gelangen. Dabei war alles nur ein Zufall, beteuert der Regisseur, der am 17. Februar 90 Jahre alt wird. Es war im Jahr 1970, und das Werk, das ihn bald bekannt machen würde, war gerade fertig geworden. "El Topo", der Maulwurf, war ein Acid Western, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte. Anarchisch, spirituell, surreal, brutal und auch ein wenig trashig. Genau der richtige Film für eine Vorstellung um Mitternacht - nur sehen wollte ihn keiner. Zunächst.

Jodorowsky selbst spielte El Topo, einen bärtigen Cowboy mit großem schwarzen Hut, der in Begleitung seines nackten Sohnes durch die Wüste zieht. Sie kommen vorbei an Dörfern voller Leichen und Tierkadavern, treffen auf Gangster, die Damenschuhe liebkosen und Sex mit Priestern haben, und auf einen sadistischen Colonel, aus dessen Fängen sie eine Frau befreien. Um ihr seine Liebe zu beweisen, muss El Topo vier Meister der Wüste bezwingen. Doch alles ist umsonst: Seine Geliebte verlässt ihn, für eine andere Frau, die den Cowboy in einem Duell erschießt. Jahre später wird El Topo wiedergeboren, in einer Höhle, gepflegt und vergöttert von Kleinwüchsigen und Krüppeln, die dort hausen, ausgeschlossenen von den Bewohnern einer nahen Westernstadt. Der reinkarnierte El Topo macht es sich zur Aufgabe, sie zu befreien.

"Niemand interessierte sich für meinen Film", erzählte Jodorowsky vor wenigen Jahren auf dem Filmfest München. Doch dann sah ausgerechnet John Lennon "El Topo". Der Ex-Beatle war gerade in New York, wo er mit der Urschrei-Therapie experimentierte. Zusammen mit seinen eigenen Experimentalfilmen zeigte er "El Topo" im New Yorker Kino Elgin. Gespielt wurde das bizarre Werk erst nach Mitternacht - es sei zu intensiv für jede andere Uhrzeit, hieß es in der Ankündigung. Der Mythos des Mitternachtskinos war geboren - bizarre Filme, schräge Experimente, zu seltsam für die Massen, genau richtig für Filmabende im Dunkel der Nacht.

Im Schatten von David Lynch

In den nächsten Jahren drehte Jodorowsky weitere Filme, "Der Heilige Berg" etwa, ein bildgewaltiges Epos, das in jeder Szene so viel Fantasie in sich birgt wie die Träume ganzer Nächte. Diesmal spielte Jodorowsky einen buddhistisch angehauchten Prediger, der eine Gruppe von neun Menschen zu einem Berg führt, wo sie, anders als erhofft, nicht auf die legendären Neun Heiligen stoßen, sondern zu sich selber finden. "Ich habe einmal jemanden getroffen", erzählte Jodorowsky in München, "der hat 'Der heilige Berg' 50 Mal gesehen, und erst dann gemeint, er verstehe langsam, wovon der Film handelt!"

Auch andere Regisseure machten damals Filme für das Mitternachtskino. George Romero drehte Zombie-Streifen, David Lynch seinen "Eraserhead", und John Waters machte Dragqueen Divine zur Underground-Legende. Während aber Lynch zu einem der wichtigsten Regisseure der Gegenwart wurde, geriet Jodorowsky in Vergessenheit. Seine Filme wurden kaum gezeigt, waren lange Zeit nicht auf Video oder DVD erhältlich. Allen Klein, Produzent von "Der Heilige Berg" und ehemaliger Manager der Beatles, verhinderte nach einem Streit mit Jodorowsky die Verbreitung der Werke. "Ich habe selbst VHS-Kopien meiner Filme verteilt und andere dazu angehalten, sie illegal weiter zu vertreiben", erzählte Jodorowsky. Erst 2004 konnte der Rechtsstreit beigelegt werden.

Salvador Dalí, Pink Floyd, H. R. Giger

Die Geschichte des Alejandro Jodorowsky war immer auch eine des Scheiterns. 1990 drehte er "The Rainbow Thief", mit den "Lawrence von Arabien"-Stars Peter O'Toole und Omar Sharif in den Hauptrollen. Doch nicht Jodorowsky hatte am Set das Sagen, sondern die Produzenten - der Film wurde ein Flop und Jodorowskys unpersönlichstes Werk. Seinen vielleicht größten Film konnte Jodorowsky gar nicht erst drehen. 1975 übernahm er die Arbeiten an der Verfilmung des Science-Fiction-Epos "Dune". Salvador Dalí sollte die Rolle von Imperator Shaddam IV. übernehmen, für 100.000 Dollar pro Minute Leinwandzeit, Pink Floyd die Musik komponieren, H. R. Giger das Setdesign entwerfen. Als bereits zwei Millionen Dollar ausgegeben waren, zogen sich die Produzenten zurück.

Knapp zehn Jahre später veröffentlichte ein anderer dann seine Version von "Dune" - David Lynch. Wer wissen will, wie großartig Jodorowskys "Dune" hätte werden können, sollte sich die Graphic Novels der "Incal"-Reihe besorgen, die der Filmemacher zusammen mit Comic-Legende Moebius schuf - Ridley Scott sollte sich für seinen "Blade Runner" bei den apokalyptischen Zukunftsvisionen bedienen, später auch der japanische Animationsmeister Hayao Miyazaki ("Das wandelnde Schloss").

Heute ist Jodorowsky, geboren 1929 als Sohn ukrainischer Juden in der chilenischen Küstenstadt Tocopilla, eine lebende Legende. Filmfestivals würdigen ihn, das Moma zeigte seine Werke, Marilyn Manson ließ sich von ihm trauen. In den letzten Jahren, da war er schon weit über 80, war Jodoroswky so umtriebig wie lange nicht mehr. Für "The Dance of Reality" und "Endless Poetry" kehrte der Regisseur, der 1955 erstmals nach Frankreich ging und noch immer in Paris lebt, zurück nach Chile.

Das Geheimnis der Psychomagie

Entstanden sind die persönlichsten Werke des Künstlers, eine Mischung aus Autobiografie, Musical und Fantasydrama. "Mein Sohn Brontis spielt seinen Großvater, also meinen Vater", erzählte Jodorowsky 2013 in Cannes über "The Dance of Reality". "Mein zweiter Sohn Adán spielte einen Politiker, der sich wegen Brontis umbringt. Brontis tötet also seinen Bruder. Für mich und meine Familie war der Film ein verstörendes Erlebnis. Und es war eine Versöhnung mit meinem Vater."

Sein Vater, so sagte es Jodorowsky einmal, sei ein brutaler Mann gewesen, der seine Frau geschlagen und missbraucht habe. Er selbst, Alejandro, sei das Ergebnis einer Vergewaltigung; seine Mutter habe ihn deshalb nie lieben können. Wohl wegen dieses kindlichen Traumas beschäftigte sich Jodorowsky immer auch mit der menschlichen Psyche, mit Zen-Buddhismus, Alchemie und Tarot. Und er entwickelte seine eigene Methode, um mit Traumata umzugehen: die Psychomagie, beschrieben in mehreren Büchern.

"Wir haben mentale, emotionale, sexuelle und psychische Gewohnheiten. Wenn wir diese Gewohnheiten durchbrechen, erscheint eine neue Dimension unseres Selbst", erklärt er das Konzept. Gewisse Akte könnten so Einfluss auf das Unterbewusstsein nehmen und Blockaden und Traumata lösen. Wer etwa unter Platzangst leide, schreibt er, solle sich nackt in einen Sarg legen und von "sechs wohltätigen Menschen" beerdigen lassen, die ihn anschließend mit Honig bedecken und ablecken. Derzeit arbeitet Jodorowsky an einem Dokumentarfilm über seine Psychomagie, finanziert über Crowdfunding. "Ich erwarte von Filmen das, was sich Nordamerikaner von bewusstseinserweiternden Drogen erwarten", hat er einmal gesagt. Ihm selbst ist das gelungen wie kaum einem anderen.

Von Sven Hauberg